Halsband oder Brustgeschirr – eine Glaubensfrage?

LESEPROBE aus der SPF 55

Von Lisa Margraf

 

Bei kaum einem anderen Thema in der Hundewelt scheiden sich die Geister so sehr wie bei der Frage, ob ein Halsband oder ein Brustgeschirr die bessere Wahl für den geliebten Vierbeiner ist. Die emotionale Diskussion findet seit Jahren nicht nur auf Hundeplätzen, in Hundeschulen und in der Tierarzt- oder Therapeutenpraxis statt, sondern genauso beim alltäglichen Gassigang und ausartend mittlerweile im Internet. Die Halsbandfraktion belächelt dabei gern die Befürworter von Brustgeschirren und stempelt sie als „Dutzi-dutzi“-Gesellschaft ab, wohingegen die Brustgeschirrnutzer Halsbänder des Öfteren als tierschutzrelevantes Accessoire verteufeln. Wer hat denn nun eigentlich recht?

Die Frage nach Halsband oder Brustgeschirr ist tatsächlich gar nicht so einfach zu beantworten, denn beide Varianten haben ihre Vor- und Nachteile. Problematisch wird es vor allem dann, wenn der Hund bisher nicht gelernt hat, an der lockeren Leine zu laufen. Egal, ob der Hund am Geschirr oder Halsband geführt wird: In bestimmten Situationen können enorme Kräfte auf den Hundekörper wirken, in den meisten Fällen durch abruptes oder dauerhaftes Ziehen an der Leine. Trägt der Hund in solchen Momenten ein Halsband, wirken diese Kräfte auf einen sensiblen Bereich des Halses ein.

 

Risiken des Halsbands

Genau dort, wo das Halsband liegt, befinden sich unter anderem wichtige Organe, wie die Luftröhre, die Schilddrüse, der Kehlkopf und die großen Halsgefäße, aber auch empfindliche Nerven, Muskeln und Lymphgefäße sowie die Halswirbelsäule. Entsteht an diesen Stellen Druck, kann das fatale Folgen haben und unter Umständen sogar mechanische Schäden oder Ischämien (Durchblutungsstörungen) verursachen. Daraus können sich wiederum Problematiken am Kiefer und den Sinnesorganen ergeben oder Symptome wie Nervosität, Gereiztheit und Müdigkeit verursacht werden. Wird durch zu viel Druck die Halswirbelsäule beeinträchtigt oder gar geschädigt, können Bewegungsstörungen oder Lahmheiten der Vordergliedmaße und des Halses folgen.

Da die Halswirbelsäule in Kontakt mit vielen weiteren Strukturen des Körpers steht, können Regionen, die sich nicht in unmittelbarer Nähe zum Hals befinden, in Mitleidenschaft gezogen werden. So finden beispielsweise Läsionen in der Lendenwirbelsäule ab und an ihren Ursprung in der Halswirbelsäule. Der Ulmer Tierarzt Ralph Rückert vermutet außerdem, dass durch ständigen Druck auf den sensiblen Halsbereich Entzündungen in der Schilddrüse provoziert werden. Bleibt diese sogenannte Thyreoiditis unbemerkt, wäre das sogar als Ursache einer Schilddrüsenunterfunktion denkbar. Wissenschaftliche Belege gibt es hierfür allerdings noch nicht.

Entscheiden sich Hundebesitzer dafür, ihren Vierbeiner an einem Halsband zu führen, ist es wichtig, dass dieses nicht zu schmal ist, damit es nicht einschnürt. Als Faustregel gilt, dass das Halsband mindestens über zwei Halswirbel reichen sollte. Als Material eignet sich neben Stoff und Leder auch unterfüttertes Neopren. Zwischen Halsband und Hundehals sollten noch circa zwei Fingerbreit Platz sein, um ein zu enges Anliegen zu vermeiden. Dennoch sollte es eng genug sein, damit der Hund nicht mit dem Kopf hinausschlüpfen kann.

Shutterstock/Stephm2506

Bewegungseinschränkung durch Brustgeschirre

Der große Vorteil des Brustgeschirrs gegenüber dem Halsband ist die günstigere Druckverteilung. Vielleicht ist auch deswegen tendenziell zu beobachten, dass immer mehr Hundebesitzer ihren Hund am Brustgeschirr anstatt am Halsband führen. Mittlerweile gibt es viele verschiedene Brustgeschirrarten und Passformen. In manchen Situationen, wie in einigen Hundesportarten oder bei Assistenzhunden, ist ein Brustgeschirr sogar angesagt. Gleichzeitig kann aber beobachtet werden, dass das Tragen eines Brustgeschirrs, welcher Art auch immer, das Gangbild des Hundes verändert – egal, ob er auf Zug läuft oder nicht. Wir wissen, dass ein unphysiologischer Gang in der Regel zu Kompensationsmustern führt, woraus auf lange Sicht Pathologien hinsichtlich des Bewegungsapparats und auch der Organe entstehen können. Es gibt diesbezüglich zwar schon ein paar wenige Studien, allerdings sind diese bisher nicht gerade aussagekräftig. Wissenschaftler aus Großbritannien haben zum Beispiel die Effekte von „einschränkenden“ und „nicht einschränkenden“ Geschirren in Bezug auf die Streckung des Schultergelenks im Schritt und Trab des Hundes untersucht. Als „einschränkend“ wurde dabei das sogenannte Brustblattgeschirr und als „nicht einschränkend“ das Y-Geschirr bezeichnet. Die Ergebnisse zeigten, dass beide Hundegeschirre den Hund in seiner Bewegungsfreiheit beeinträchtigten. Gleichzeitig war es aber für die Forscher sehr überraschend, dass das Y-Hundegeschirr die Bewegung des Hundes tatsächlich mehr einschränkte als das Brustblattgeschirr. „Während das nicht einschränkende Hundegeschirr die Schulterbewegung beim Gehen um 4,73 Grad und beim Traben um 9,31 Grad einschränkte, schränkte das „einschränkende Hundegeschirr“ die Hunde beim Gehen nur um 2,16 Grad und beim Traben nur um 4,32 Grad ein“, heißt es in der Studie zu den Forschungsergebnissen. Zu kritisieren ist, dass in der Studie nur neun Hunde ausgewertet wurden, deren Bewegung auf einem Laufband analysiert wurde. Dabei hatten die Hunde zudem nur wenig Zeit, um sich an das Laufband zu gewöhnen.

Eine Pilotstudie aus Ungarn konnte aufweisen, dass alle in der Studie getesteten Geschirre das Gangmuster eines jeden Hundes unterschiedlich verändern. Daraus wurde geschlussfolgert, dass es in Bezug auf die Art des Geschirrs keine Einheitslösung gibt, die für jeden Hund passt. Ein Geschirr, das an einem Chihuahua gut sitzt und in dem er sich frei bewegt, kann für eine Deutsche Dogge gänzlich unpassend sein und andersherum. Das Ergebnis der Studie erscheint logisch, wobei darin noch nicht einmal die unterschiedlichen Anwendungsfälle eines Geschirrs berücksichtigt wurden, wie bei einem Spaziergang in der Stadt im Vergleich zu einer Wanderung im Wald oder bei der Arbeit eines Diensthundes.

Das heißt für uns, dass zumindest momentan keine wissenschaftlich basierte Aussage getroffen werden kann, welches Brustgeschirr konkret welchen Einfluss auf unsere Hunde nimmt. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir die Fortbewegung unserer Hunde mit und ohne Geschirr beobachten müssen, um Einschränkungen, die durch das Tragen eines Brustgeschirrs verursacht werden können, zu erkennen.

Prof. Dr. Martin S. Fischer hat in Bezug auf die Fortbewegung des Hundes mit der „Jenaer Studie zur Hundefortbewegung“ die Sicht auf das Gangbild des Hundes revolutioniert. Die bisher umfassendste Forschungsarbeit weltweit über Gelenkwinkelverläufe, Segmentbewegungen, Gangmuster, Schrittlänge, Schrittdauer usw. des Hundes hat spektakuläre Ergebnisse geliefert und aufgezeigt, dass die Bewegung des Schulterblatts eine wesentlich größere Rolle für die Fortbewegungsaktion der Vordergliedmaße spielt als bisher angenommen. Daraus ergibt sich für uns Hundebesitzer, dass ein Brustgeschirr sorgfältig auf die freie Beweglichkeit der Vordergliedmaße einschließlich des Schulterblatts geprüft werden muss.

Als Hundephysiotherapeuten können wir in Bezug auf Bewegungseinschränkungen der Vordergliedmaße, provoziert durch eine ungünstige Druckverteilung eines schlecht sitzenden Geschirrs, oft einen Zusammenhang mit der Dysfunktion der ersten Rippe feststellen. Untersuchungen dazu gibt es bislang keine. Da viele Geschirre aber genau in diesem Bereich verlaufen (oder dorthin rutschen, wenn der Hund zur Seite zieht), könnte das Tragen von Geschirren (mit) eine denkbare Erklärung für häufig auftretende Läsionen der ersten Rippe sein. Beim Hund setzt die erste Rippe zwischen dem letzten Halswirbel (C7) und dem ersten Brustwirbel (Th1) an. Bei der Einatmung (Inspiration) weitet sich der Brustkorb, und der Rippenkopf gleitet an der Wirbelsäule nach ventral (bauchwärts). Bei der Ausatmung (Exspiration) gleitet er nach dorsal (in Richtung Rücken). Gemeinsam mit anderen Strukturen bilden die beiden ersten Rippen die obere Thoraxapertur (obere Öffnung des Brustkorbes), durch die sich neben dem Ösophagus (Speiseröhre) und der Trachea (Luftröhre) auch der Brustteil des Nervus vagus sowie Anteile des Plexus brachialis ziehen. Die erste Rippe ist unter anderem Ansatzpunkt einiger Muskeln (u. a. M. scalenus medius, M. sternothyroideus, M. sternohyoideus) und Ursprung des M. rectus thoracis. Ist die Funktion der ersten Rippe eingeschränkt, werden all diese Strukturen und ihre Funktion mit beeinträchtigt.

Nicht selten ist außerdem zu beobachten, dass das Brustgeschirr „zu kurz“ ist und damit in die Achsel einschneidet. Das ist insofern problematisch, als dass in diesem Bereich ein sensibles Nervengeflecht, der sogenannte Plexus brachialis, verläuft, der unter anderem für die Innervation der Vordergliedmaße und der Brust mitverantwortlich ist. Andere Geschirre sind „zu lang“, enden hinter der letzten Rippe, schneiden dort ein und beeinträchtigen damit mitunter die Tätigkeit des Zwerchfells und der Organe negativ.

 

Fazit

Auch wenn wir alle diese Dinge berücksichtigen, wird ein gut sitzendes Geschirr unseren Hund in der Bewegung tangieren. Daher ist es besonders wichtig, dass Hunde eine vernünftige Leinenführigkeit lernen. Es wird zwar immer Situationen geben, in denen das noch nicht möglich ist – zum Beispiel bei jungen Hunden –, dann sollten wir verschiedene Geschirre nutzen, um einseitige Belastungen zu reduzieren. Hunde, die ständig ein Geschirr tragen müssen, zum Beispiel Assistenzhunde, sollten regelmäßig bei einem Therapeuten durchgecheckt werden.

Schlussendlich ist es neben der Leinenführigkeit sinnvoll, wenn der Hund beides kennt: Geschirr und Halsband. So kann in verschiedenen Situationen die passendere Wahl getroffen werden. Das ist vor allem dann hilfreich, wenn der Einsatz eines Geschirrs oder Halsbands zwingend notwendig ist. Besteht zum Beispiel eine Halsverletzung, auf der ein Halsband aufliegen würde, erleichtert man dem Hund die Situation, wenn er bereits an ein Geschirr gewöhnt ist. Genauso verhält es sich, wenn eine Verletzung am Rücken das Tragen eines Geschirrs unmöglich macht. Für den Hund ist es dann angenehmer, wenn er das Laufen am Halsband bereits geübt hat.

 

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